Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Reaktionen von uns. Wir erleben gegenwärtig, wie ein kleines, für das normale menschliche Wahrnehmungsvermögen unsichtbares Virus aus der Familie der Corona-Viren, dem man den Namen “COVID-19" gegeben hat, Schwächen, Schieflagen und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft insgesamt und in unseren persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen deutlich sichtbar macht und uns in eine tiefe Krise stürzt.
Schutzmaßnahmen – so notwendig sie sind –, die intensive Suche nach einem geeigneten Medikament oder Impfstoff und im Übrigen ein Abwarten, bis die Krise vorüber ist und wir wieder in die frühere, gewohnte Normalität zurückkehren können, reicht als Antwort bei weitem nicht aus. “Business as usual” geht künftig nicht mehr!
Unsere Welt und unser Leben hat sich in allen Bereichen grundlegend verändert und fordert uns zu einem eingehenderen, tieferen Nachdenken über unser bisheriges und künftiges Leben und Verhalten heraus. Unser gesamter Lebensstil, unser Umgang miteinander, unser Verhältnis zur Umwelt und Natur und vor allem die Grundsätze und Werte, die wir in den Vordergrund gestellt hatten, an denen wir uns orientiert und die unser bisheriges Leben weitgehend geprägt haben – z.B. die zunehmende “Ökonomisierung” unserer gesamten Gesellschaft –, sind in Frage gestellt.
Die gegenwärtige “Corona-Krise” kann für uns zu einer Chance zu einem Umdenken und zu einem Neubeginn werden. Was wir seit langer Zeit als “Normalität” erleben und bezeichnen, ist weltweit gesehen alles andere als normal, eher unnormal und außergewöhnlich.
Seit 75 Jahren leben wir in unserem Land im Frieden, ohne Krieg und größere Unruhen. Viele Freiheiten sind uns in einer stabilen Demokratie garantiert. Wir haben es in den vergangenen Jahrzehnten zu einem beachtlichen wirtschaftlichen Wohlstand gebracht. Es gibt Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeit für alle. Wir haben ein funktionierendes Gesundheitssystem und können uns auf viele gesellschaftliche Regelungen und gesicherte Lebensformen und Rhythmen einfach verlassen. Welche Region auf unserer Erde und welche geschichtliche Epoche in der Vergangenheit könnte eine derartig positive Bilanz vorweisen?! In den meisten Teilen der Welt und in nahezu allen zurückliegenden Phasen der Geschichte erleben wir ganz andere Verhältnisse in verschiedensten Formen: Soziale Ungerechtigkeiten, Kriege, Gewalt und Unterdrückung, Vertreibung und Flucht, Naturkatastrophen, Hunger und Krankheiten, ein Leben unter dem Existenzminimum und vieles mehr. Was wir in unseren Breiten mittlerweile seit vielen Jahrzehnten erleben, ist nicht die “Normalität” im menschlichen und gesellschaftlichen Leben auf unserem Globus. Das kann jeder wahrnehmen, der mit wachen Sinnen die Lebenswirklichkeiten in vielen Teilen der Welt beobachtet. Wir sind in einer absolut privilegierten Situation, in der uns jetzt wie ein Paukenschlag die “Corona-Krise” trifft und uns wachrüttelt. Jemand hat da offensichtlich abrupt die Bremse gezogen und ‘Stopp!’ gesagt.
Als Christen – gewohnt, nach Gott zu fragen und zu suchen in den konkreten Vorgängen des alltäglichen Lebens – stellen sich uns da mancherlei Fragen: Welchen Sinn hat das Ganze? Wo ist Gott in dieser Krise? Ist er es, der uns Menschen zum Innehalten, zur Besinnung und Neuorientierung bewegen möchte? Was will er uns durch eine derartige einschneidende Zäsur sagen? Diese Zeitenstimme “Corona-Krise” ist – davon dürfen wir überzeugt sein – ein Anruf Gottes an uns und eine Herausforderung zum gründlichen Nachdenken über unser Leben und wie wir es gestalten.
Gott suchen, sich seinen Gedanken und Absichten annähern – das ist die Aufgabe, die uns in dieser Krisenzeit gestellt ist, damit die Krise zur Chance für einen Neubeginn werden kann, trotz aller gravierenden Einschränkungen und existenzieller Nöte in allen persönlichen und gesellschaftlichen Lebensbereichen, die diese Zeit auch mit sich bringt und uns unsere menschliche Begrenztheit schmerzlich bewusst macht.
Einzelne Stichworte, die sicher manche geheimen Wünsche und Sehnsüchte unseres Herzens widerspiegeln und ausdrücken, mögen uns da in den Sinn kommen:
- Ein “entschleunigtes Leben” mit viel weniger Hektik und Stress, die den Menschen nur überfordern und letztendlich zerstören; “mehr Zeit haben” für sich selber, füreinander und auch für Gott;
- Eine “Neubesinnung auf zentrale menschliche Werte”, die unser Leben erfüllen und wertvoll machen – Familie, Freunde, tiefe menschliche Beziehungen und echte Begegnungen, Zuwendung und Liebe, und vieles mehr;
- Eine “Solidarität” und ein “gesellschaftlicher Zusammenhalt” über alle Grenzen hinweg, nach innen und außen, und eine “Mitverantwortung fürs Ganze”, Hilfsbereitschaft gegen den Egoismus des ‘Jeder-für-sich’;
- Ein “Leben im Einklang mit der Schöpfung”, ein sensibler Umgang mit der Natur und Umwelt, die unsere Lebensgrundlage ist und die uns von Gott zur Gestaltung und Pflege anvertraut ist;
- Eine “neue Lebensform von Kirche”, die sich neben den gemeinschaftlichen Vollzügen in den Pfarrgemeinden vor allem in den “Hauskirchen” zeigt und dabei hilft, den Glauben im Alltag zu leben;
- Ein “uneingeschränktes Vertrauen” darauf, dass Gott alles in seinen Händen hält, mit uns auf dem Weg ist, unsere menschliche Begrenztheit kennt und alle unsere Lasten mit uns trägt.
Wenn all das als Ergebnis aus der Krise bleiben könnte und dauernden Bestand hätte, dann könnten wir alle gelassener und ruhiger, ohne Angst und im inneren Frieden den Weg in die Zukunft gehen, verwurzelt und geborgen in der gläubigen Annahme, dass nichts, was geschieht, sinnlos ist. In allem – auch in der Krise, in Krankheit, Leid und Tod – steckt ein tiefer Sinn, auch wenn dieser oft nicht sofort erkennbar ist. Der Geist Gottes, um den wir immer bitten dürfen, wird uns jeweils zur rechten Zeit erkennen lassen, was für uns wichtig ist. Im Vertrauen auf Gott in jeder Lebenslage sind wir auf jeden Fall immun gegenüber allen Gefahren, die uns in Angst versetzen und aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Deshalb: “Überlass dem Herrn die Führung in deinem Leben. Vertrau doch auf ihn; er macht es richtig.” (vgl. Psalm 37,5)
Pater Theo Breitinger
Lieber Pater Theo, tolles Statement! Spricht mir aus der Seele. Ich sehe es sehr ähnlich und finde das es für alle gedacht ist, unabhängig davon ob religiös, gläubig oder etwas anderes.
Danke!
Viele Grüße
Brigitte Meyer, Chieming